In meine Funkbude ist ein Neuer eingezogen. 22.5 kg schwer und mit vielen Drehknöpfen und Tasten ausgestattet. Im Grunde ein armer Kerl, der durch mehrere Shacks gezogen ist und bisher keine Bleibe gefunden hat. Keiner wollte ihn behalten. Zu gross, zu komplex, zu wenig digital. Denn trotz seiner gewaltigen Ausmasse und seiner luxuriösen Ausstattung ist er halt nur ein halbes Flaggschiff. Der IC-7700 von Icom.
Wieso dieser Transceiver jemals gebaut wurde, ist mir ein Rätsel. Denn Icom hatte damals bereits ein Flaggschiff: den IC-7800. Auch die Mittelklasse von Icom wartete mit sehr guten Spezifikationen auf und befand sich auf einem ausgereiften Niveau. In diesem Segment war, nach der erfolgreichen Pro-Serie, der IC-7600 im Angebot. Aber Icom war wohl der Ansicht, dass zwischen Mittelklasse und Flaggschiff noch ein weiterer Transceiver Platz hätte. Dumm nur, dass diesem der zweite Empfänger fehlte. Und noch dümmer, dass es im ersten Anlauf nicht klappte und die Endstufen des 200Watt Gerätes reihenweise ihren Geist aufgaben.
Heute hat Icom weder ein halbes noch ein ganzes Flaggschiff im Verkaufsgestell. Der IC-7851 wurde im Juli 2021 abgekündigt. Der IC-7700 musste schon vorher das Feld räumen. Seine Technik galt als veraltet, angesichts der Konkurrenz der "Direct Sampler" bei denen der A/D-Wandler "an der Antenne hängt". Zurzeit ist der IC-7610 Icom's bestes Pferd im Stall. Ein Direct Sampler mit mitlaufendem Preselector. Ein Feature, das übrigens auch im IC-7851 und IC-7700 bereits vorhanden war. Es wird DigiSelect genannt und ist m.E. ein "Must" in einem Direkt-Abtaster. Im IC-7700 ist es eher "Nice to have".
Vielleicht lassen sich heute grosse teure Geräte nicht mehr so gut verkaufen und haben einen schlechten ROI (Return of Investment). Immerhin kostete das Flaggschiff IC-7851 um die $12500.- und das "halbe Flaggschiff" IC-7700 seinerzeit immer noch die Hälfte davon. Irgendwie logisch, nicht? Halbes Flaggschiff, halber Preis! Die heutigen Direct Sampler sind übrigens auch günstiger in der Herstellung.
Die Spektrum- und Wasserfall-Anzeige des IC-7700 sieht im Vergleich zu den "Direct Samplern" etwas alt aus. Während bei den Direkt-Abtastern das Spektrum unmittelbar angezeigt wird und alle Signale gleichzeitig "aufpoppen", ist die Anzeige des IC-7700 mit einem Spektrum-Analysator vergleichbar. Die Abtastrate und die damit verknüpfte VBW (viewing bandwidth) sind nicht zu übersehen.
Doch der LCD-Schirm ist gestochen scharf und lässt sich durchaus sehen. Die beiden simulierten S-Meter sind kaum von Drehspul-Instrumenten zu unterscheiden. Doch das Wichtigste: Der Empfänger gehört auch heute noch zur Spitze. Alle DSP Goodies sind eingebaut und auf dem Stand der heutigen Empfängertechnik. Da hat sich seit der Pro-Serie nicht mehr viel getan.
Dass sein Empfänger in der Sherwood List unter "ferner liefen" fungiert, ist bloss dem Umstand geschuldet, dass sein schärfstes Roofing-Filter 3kHz Bandbreite hat und Sherwood seine Liste nach den 2kHz-Werten sortiert. Der Empfänger ist absolut top. Hier der Bericht des Icom-Gurus Adam Farson.
Bei einem ersten Vergleich mit dem IC-7300 war ich positiv überrascht über die Ruhe des Empfängers und die Klarheit der Signale. Und gleichzeitig betrübt darüber, dass der Neue meinen IC-7300 als "Rauschkiste" entlarvte.
Doch der Neue ist ein komplexes Gerät. Wer nicht gerne an Knöpfen dreht hat Mühe mit ihm. Für alles gibt es auf der riesigen Frontplatte einen Knopf und man hat damit unmittelbaren Zugriff auf alle wichtigen Funktionen. Angetan war ich u.a. über die Möglichkeit, die AGC Release-time stufenlos mit einem Drehknopf regeln zu können. Dafür ist das unausweichliche Menue nicht so verzweigt und anspruchsvoll wie bei den Dreiknopf-Geräten.
Auch die zusätzlichen 3dB der 200 Watt Endstufe sind nicht zu verachten. Dieses Plus kann in kritischen Situationen entscheidend sein. Nicht jeder hat Lust auf eine zusätzliche Kilowatt-PA auf dem Stationstisch. Der IC-7700 hat übrigens ein eingebautes Netzteil. Das ist auch nötig, denn seine Endstufe läuft mit 50 Volt.
Den Neuen habe ich für ein Butterbrot gekauft und war total baff, dass mir keiner zuvorgekommen ist. Dabei ist es sogar ein neueres Modell mit der verbesserten Endstufe. Dort werkelt nun ein Stac2942b anstelle von zwei MRF150 MOSFET. Ein Mordskerl von Transistor, der für einen maximalen Output von 350 Watt spezifiziert ist - bei 175 MHz! Sollte der mal kaputt gehen, werde ich den Transceiver wohl verschrotten müssen. Das längst abgekündigte Teil ist, wenn überhaupt, wohl kaum unter $500 zu haben. Eine Reparatur der PA beim Fachhändler meines Misstrauens würde sicher das Doppelte kosten.
Doch Sorgen mache ich mir keine. Ich habe in meiner Funkerlaufbahn noch nie einen Endstufen-Transistor gekillt. Holz klopf.
Wie es bei mir so Brauch ist, habe ich erst mal die Motorhaube des Neuen mit meinem JIS Nr.2 aufgeschraubt. Dann wurden dem IC-7700 als erste Handlung die Weisheitszähne gezogen. Erstaunlich, dass das die Vorbesitzer nicht schon getan haben. Mit ein paar Dioden weniger läuft er jetzt auch auf 60m, einem sehr kleinen aber tollen NVIS-Band.
Wie in dieser Klasse offenbar üblich, wurde das Handbuch nicht als geheftete Kurzanleitung geliefert, sondern als Ringordner. In Deutsch, notabene, und mit einem Prüfbericht der Qualitätskontrolle von Icom. Ein Privileg, das man bei den heutigen Massengeräten nicht erwarten darf.
Der Neue hat wenig Gebrauchspuren, von ein paar Kratzern auf dem Gehäuse abgesehen. Man sieht, dass er wenig benutzt wurde. Nur die beiden Seitengriffe und die Fussverlängerungen, die zur Grundausrüstung gehören, sind auf seinem Weg durch verschiedene Funkbuden verloren gegangen. Keine grosse Sache.
Ich denke, der Neue hat Potential zum Bleiben. Ich bin auf Kurzwelle ausschliesslich Telegrafist, und der kristallklare Klang seiner CW-Signale schmeichelt meinen alten Ohren.
Da werden Erinnerungen wach...
AntwortenLöschenWegen diesem feinen Tranceiver hätte ich vor
fast 15 Jahren beinahe meinen letzten Anlauf
die A-Lizenz zu machen in die Tat umgesetzt.
Leider ist es in den letzten fast vierzig Jahren
beim SWL Status hier in DL geblieben.
Ein befreundeter OM hatte sich das feine Teil
ein Jahr nach Markteinführung gegönnt.
Ich hatte die Ehre die Funktionen & Fähigkeiten
am ersten Wochenende nach Kauf zu erkunden.
Ist kein Vergleich zum IC-7300 was den Empfänger
anbelangt, stimmt.
Und nichts geht über Drehregler!
Also, toller Fang. Unbedingt behalten.
Beste Grüße
Ingmar
PS: Bei eb*y gibt es gerade das externe Keypad
für € 40,- und das Cat Programmierkabel
für € 18,- jeweils als Sofort-Kauf.