Mittwoch, 5. Dezember 2018

Tanz in der Anstalt



Armin tanzte mit Charlie im Korridor als ich gestern in der Anstalt ankam. Die beiden wirbelten herum wie Derwische.
Bereits im Treppenhaus war mir die Musik aufgefallen, aber ich konnte mir keinen Reim darauf machen. Sie war gefühlt aus dem vorletzten Jahrhundert. "Ski-Twist von Vico Torriani", meldete meine Erinnerung mit Verzögerung.
Bei meinen bisherigen Besuchen in der Anstalt hatte ich zwar gelernt, mich über nichts und niemanden zu wundern, doch beim Anblick der "Kapelle" fielen mir fast die Augen aus dem Kopf. Putin, der Hausmeister, saß mit nacktem und eingeölten Oberkörper am Boden, spielte auf einer Ziehharmonika und sang dazu lauthals. Neben ihm saß das Fibonacci-Kind und begleitete ihn auf einer Flöte.
Es musste eine Zauberflöte sein: feine glitzernde Sterne schwebten durch den Korridor wie Sternenstaub. Mir wurde ganz unwirklich weihnachtlich zumute und ich konnte nicht anders, als mich zu den Musikanten zu setzen.
In diesem Augenblick fielen mir die Töne eines drittes Musikinstruments auf, das im Spiel sein musste. Aus dem tiefen, knarzenden Rhythmus schloss ich auf eine verstimmte Bassgeige. Doch nirgends war ein solches Instrument zu erspähen. Erst als mein Blick auf Putins Hund Trumpi fiel, einen golden Retriever, schloss sich in meinem Hirnkasten das richtige Relais und ich realisierte, dass Trumpi einen Furz nach dem anderen von sich gab.
Fragen über Fragen schwirrten durch meinen Kopf und störten die Relaiskontakte: Was wurde hier gefeiert? Was hatte Trumpi gefressen? Wo war Putins Rasenmäher? Ich hatte ihn noch nie ohne gesehen. Und war das Fibonacci-Kind wirklich Putins Tochter? Ja, war sie überhaupt ein Mädchen und nicht eher ein Junge, nach dem Haarschnitt und den Gesichtszügen zu schließen? Und wieso ähnelte sie Charlie und nicht Putin?
Da ging unvermittelt eine der Türen zu den Zimmern der Patienten auf. Es musste die neben Armins Zimmer sein. Ein Strubbelkopf erschien im Türspalt. Die Zeit hatte deutliche Spuren in ihre Mundwinkel gegraben. "Die Alte mit dem Luftgewehr, schoss es mir durch den Kopf." Ihr Gesicht kam mir bekannt vor. Irgendwo hatte ich sie schon gesehen. Nur die Frisur irritierte mich.
"Möchte jemand einen Tee?", fragte sie mit krächzender Stimme. Wie beim Platzen einer Sicherung setzte die Musik aus. Nur Trumpi ließ noch einen fahren.
"Sie muss eine Hexe sein", dachte ich unwillkürlich.
"Ich habe ihn frisch gebraut", sagte sie, "mit extra viel."
"Viel was?" Wollte ich gerade fragen, doch Putin kam mir zuvor:
"Das wäre nicht nötig gewesen, ich hätte dir Gebrauchtbeutel bringen können, wenn du gefragt hättest. Es hätte dem Klima geholfen."
"39088169", blubberte das Fibonacci-Kind.
"Achte auf deine Zahlen", sagte die Hexe und verschwand wieder, bevor jemand die Tee-Frage beantworten konnte.
"Sie hat bald fertig", sagte Putin und begann sein Lieblingsstück zu spielen: Highway to Hell. 
Verwundert blickte ich auf sein Instrument. Ich hatte das Stück noch nie aus einem Schifferklavier gehört. Doch er spielte es virtuos und hämmerte auf den Tasten rum, sodass ich unwillkürlich an eine Stalinorgel denken musste."
Das Fibonacci-Kind begleitete ihn diesmal nicht. Stattdessen sagte es kaum hörbar:
"Betrete keinen fremden Traum, ohne vorher zu fragen."
Ich war baff. Es war das erste Mal, dass ich aus ihrem oder seinem Mund etwas anderes hörte als Zahlen. Aber noch bevor ich antworten konnte, verlor ich den Kontakt zu dieser Wirklichkeit.

Das nächste was ich wahrnahm, war das Rauschen von Wasser. Alarmiert öffnete ich die Augen. Ich lag in Armins Zimmer auf dem Bett. Er goss eine goldgelbe Flüssigkeit aus einer Flasche in einen Becher und reichte ihn mir.
"Nichts ist wie es scheint", sagte er zu mir. "Trotzdem ist alles miteinander verwoben."
"Was ist geschehen?"
"Nichts, eine kleine Schwäche, nur eine kleine Schwäche." 

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