Donnerstag, 18. Oktober 2018
Das Tonband mit dem magischen Auge
Als Armin und ich noch jung gewesen sind und ein bisschen verrückt und nicht so normal wie heute, da hatten wir beide ein Tonband. Beide waren von Philips und hatten ein magisches Auge. Das ist eine besondere Röhre, die zur Anzeige der Aussteuerung benutzt wurde. Überhaupt funktionierte das ganze Tonband mit Röhren.
Heute wissen viele nicht mehr was ein Tonband ist und eine Röhre ist für viele ein Ding wo man reingesteckt wird, wenn man sehr krank ist.
Wo mein Tonband abgeblieben ist, weiß ich nicht. Irgendwann verschwand es aus meinem Leben. Möglicherweise bei einem Umzug oder auf einem Flohmarkt. Mitsamt der Kartonkiste voll bespielter Bänder.
Darum war ich höchst erfreut, als mir Armin bei meinem gestrigen Besuch in der Anstalt sein altes Tonband in die Hände drückte und sagte:
"Hier habe ich keinen Platz für das alte Teil. Ich hab ja nur dieses eine Zimmer und so wie es ausschaut, wird es auch so bleiben. Es ist ein Philips RK10. Bei dir ist es besser aufgehoben. Nimm es mit!"
"Ich werde gut darauf aufpassen", entgegnete ich. "Und wenn eine Röhre kaputt geht, habe ich davon noch eine Kiste voll und finde sicher was Passendes."
"Du kannst aber nicht irgendwelche Röhren reinstecken, das weißt du doch?"
"Ich bin doch nicht blöd."
"Ja, ich weiß, du siehst nur so aus. Aber ich kannte mal einen Funker, der war tatsächlich so blöd und hat irgendwelche Röhren in seinen Empfänger gesteckt. Apropos: du hattest ja auch mal einen Röhrenempfänger. Einen Hallicrafters, wenn ich mich nicht irre. Was ist aus dem geworden?"
"Der hat vermutlich den gleichen Weg genommen wie mein Tonband", gab ich zu.
Wir hatten noch ein gutes Gespräch und es war schon spät und weit außerhalb der Besuchszeit, als ich mich verabschiedete. Leider war auf dem Parkplatz die Beleuchtung zum Teil ausgefallen und so nahm das Unheil seinen Lauf.
Ich verfehlte eine Treppenstufe und verlor die Kontrolle über das Tonband. Es schlug noch vor mir auf dem geteerten Platz auf. Das Geräusch war hässlich; das Gehäuse platzte auf und das Tonband verlor einige seiner Innereien auf dem Parkplatz. Federn und Rädchen quollen heraus und das magische Auge zersplitterte. Beide Spulen sprangen aus den Halterungen und das Band zerriss dabei. Eine der Spulen rollte quer über den Platz, bevor sie umkippte. Genau vor den Füssen einer dunkel gekleideten Gestalt, die dort im Dunkeln stand.
Das konnte ich aber nur durch einen dunkelroten Schleier beobachten, denn mein Kinn hatte kurz zuvor den Boden getroffen.
Trotzdem sah ich, wie die Gestalt sich bückte und nach der Spule griff. Dann kam sie auf mich zu.
Ich checkte kurz meine Knochen, tastete nach dem Kinn und versuchte mich zu erheben. Da stand die Gestalt im dunklen Mantel bereits vor mir.
Trotz dem schlechten Licht erkannte ich sie sofort an der Tätowierung: es war Charlie. Ihr grünes Auge starrte mich an, das rote funkelte im Licht der nächsten Straßenlampe.
"Hast Scheiß gebaut, Nemo", konstatierte sie. "Bist du verletzt?"
"Hallo Charlie, ich glaube nicht", sagte ich benommen und mit angebissener Zunge. In meinem Mund war ein metallischer Geschmack. "Aber das Tonband ist hinüber."
"Ein Absturz", konstatierte sie und reichte mir die Spule. "Der Propeller ist hinüber. Die Maschine wird nicht wieder starten."
"Das darf Armin nicht erfahren. Er hat es mir geschenkt. Das heißt: ich sollte auf das Tonband aufpassen."
"Ich schweige wie ein Grab. Aber was zur Hölle ist ein Tonband?"
"Ein grosses Kassettengerät, nur ohne Kassette. Die Spulen liegen frei und man muss das Kunststoffband einfädeln."
Charlie blickte mich mit ihrem gesunden Auge verständnislos an.
"Sowas wie ein MP3 Player, nur viel grösser", doppelte ich nach. "Ach vergiss es. Im Prinzip macht es fast das gleiche wie ein Smartphone, nur kann es nicht telefonieren."
"Macht nix", Charlie zuckte die Schultern. "Aber man kann sicher damit surfen, oder?"
"Nein, es hat keinen Bildschirm, nur ein magisches Auge."
Charlie zuckte zusammen und machte ein finsteres Gesicht. Auch der tätowierte Drache auf ihrem Hals schaute mich böse an.
"Tut mir leid", sagte ich. "Es hat übrigens auch keine Kamera und keinen Terminkalender."
"Was kann es überhaupt?"
"Musik aufnehmen und abspielen. Oder auch Sprache, doch dazu muss man ein Mikrofon anschließen.
"Das ist wenig für eine so grosse Maschine. Ist sie von Apple oder Microsoft."
"Weder noch, die gab es damals noch nicht. Dafür arbeitet sie mit Röhren."
"Cool, dann ist es eine echte Steampunk-Maschine."
Mein Name ist Anton und dies ist das letzte einer Reihe von Blogs, die ich in den vergangenen Jahrzehnten geschrieben habe. Irgendwann kam beim Schreiben immer der Moment, wo ich das Gefühl bekam, es sei Zeit, zu neuen Horizonten aufzubrechen und etwas Neues anzufangen. Das war auch diesmal der Fall – im März 2023.
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