Freitag, 12. Oktober 2018

Armin schiesst den Vogel ab



Die Funkverbindung mit Armin kam bisher nicht zustande. Vielleicht ist die Anstalt einfach zu weit weg, oder meine Antenne nicht gut genug. So bin ich denn gestern Abend in die Anstalt gefahren, um das Problem unter vier Augen zu besprechen.

Die Besuchszeit war vorbei und ich musste mich am Schalter beim Eingang vorbeischleichen. Als ich leise an seine Tür klopfte, antwortete mir niemand. Ich vergewisserte mich, dass ich im Korridor allein war und drückte die Klinke. Die Tür war offen.
"Eigentlich logisch", dachte ich. "Die Insassen sollten sich nicht selbst einschließen können. Dafür sind die Wärter zuständig."
Armin war nicht da. Ich fragte mich, wo er sich wohl herumtreiben mochte. Die Anstalt war gross und verwinkelt; eine Suche wäre zwecklos. Mir blieb nichts anderes übrig: ich musste in seinem Zimmer auf ihn warten.

Endlich öffnete sich die Tür. Doch es war nicht Armin. Eine junge Frau, tätowiert wie ein Zombie, starrte mich an. Ein Auge war grün, das andere rot, wie bei einer Ampel.

"Wo kommst denn du her, und wo ist Armin?", fragte sie.

"Ich bin nur zu Besuch und warte auf ihn."

"Bist spät, die Besuchszeit ist vorüber. Wenn dich die Wärter erwischen, sperren sie dich ein." Sie lachte wie ein gackerndes Huhn. "Ich bin übrigens Charlie, wenn's dich interessiert. Und wie heisst du?"

"Nemo", entgegnete ich, denn ich wollte inkognito bleiben. Schließlich war das hier eine Kapsmühle und da musste man vorsichtig sein.

In diesem Augenblick wurde die Tür aufgerissen und Armin stürzte herein. Sein Blick schwenkte mehrere Male zwischen uns Eindringlingen hin und her, dann stieß er zu Charlie gewandt hervor:
"Hast du sie wieder festgemacht?"

"Na klar, du bist wieder online. Ich habe den Lack abgemacht und beide Enden verdrillt."

Armin ging zum Büchergestell und fummelte an seinem Funkgerät herum. "Bingo", sagte er. "Das SWR stimmt noch."

"Was ist denn passiert?", fragte ich. "War die Antenne kaputt?"

"Ja, die Alte von nebenan hat sie abgeschossen. Du weisst schon, die alte Schachtel, die rauscht wie ein Wasserfall."

"Abgeschossen? Du meinst, sie hat deinen dünnen Draht entzwei geschossen?"

"Ja mit ihrem Luftgewehr. Sie schiesst damit auch immer auf die Enten drüben am Teich."

"Ein Luftgewehr in der Anstalt? Das gibt es doch nicht. Das ist ja megagefährlich!"

"Das Leben draussen ist noch viel gefährlicher. Das solltest du eigentlich wissen!"

"Es war ein Vogel", mischte sich Charlie in die Diskussion ein. "Und drüben im Teich hat es keine Enten."

"Eben", entgegnete Armin. "Sie hat alle abgeschossen."

"Es war ein Vogel", insistierte Charlie, "mindestens ein Pelikan."

"Ich komme morgen wieder", sagte ich. "Wenn diese Sache geklärt ist."

Als ich mich wieder rausschlich standen zwei Polizisten bei meinem Opel. Mir wurde schlecht, als ich die beiden sah.

"Haben Sie etwa eine stark tätowierte Frau gesehen", fragte mich der eine.

Dann wünschten sie mir einen schönen Abend und ich fuhr vorsichtig und mit weichen Knien nach Hause.



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