Sonntag, 14. Oktober 2018

Der Untergang der Titanic



Gestern war ich wieder beim Psychiater. Denn seit ich dieses Blog hier schreibe, ist etwas mit meinen Träumen passiert. Nicht, dass ich im Traum weniger arbeiten müsste: ich bin immer noch im Labor und der Fabrik beschäftigt und hänge nach wie vor Antennen für Guglielmo Marconi in die Tannen des Vallée du Trient. Das allein wäre kein Grund für einen neuerlichen Besuch bei meinem Psychiater, nicht nach so kurzer Zeit, aber ich habe zu all dem jetzt noch einen zusätzlichen Job gefasst, obwohl ich in meinen Träumen schon am Limit bin: Neuerdings bin ich auch noch Hilfsfunker auf einem Hochseeschiff. Und das schlimme daran ist: ich weiss nicht, ob es sich bei diesem Schiff vielleicht um die Titanic handelt.
Der Kahn ist alt und die Menschen an Bord wirken wie aus der Zeit gefallen. Aber ich kann den Schiffsnamen nicht entziffern, weder auf den Rettungsbooten noch anderswo. Gelingt es doch nur wenigen Menschen im Traum zu lesen.

"Die Tests, die wir beim letzten Mal gemacht haben, sind leider nicht so gut ausgefallen", hörte ich den Psychiater sagen. Doch seine Stimme drang wie durch Watte zu mir und meine Gedanken waren draußen bei den Nebelkrähen vor dem Fenster.

"Aber das ist noch kein Grund zur Sorge", fuhr er fort. "Das bekommen wir sicher auch in den Griff. Wir schaffen das", lächelte er, und als ich zu ihm sah, hatte er mit seinen Händen eine Raute gebildet.

"Fortschreitende Altersdemenz", murmelte ich. "Ich merke es an meinen Träumen."

"Nein, nein, es ist etwas anderes. Aber wir müssen eine eingehende neuronale Untersuchung machen."

"Soll ich wieder eine Uhr zeichnen? Es ist immer noch zwanzig vor zwölf, das wird sich nicht ändern. Ich kann dir einen ganzes Blatt voller Uhren zeichnen, nein, ein ganzes Buch voll, wenn du willst."

"Hör auf, du spinnst..."
"...das ist mal eine ehrliche Diagnose. Allerdings nicht eine, die der Patient direkt hören sollte."

"Es tut mir leid...ich wollte sagen, du bildest dir etwas ein, was nicht existiert. Demenz ist etwas anderes, du bist nicht vergesslich. Dein Gedächtnis funktioniert noch ausgezeichnet."

"Nein, es geht um viel mehr", regte ich mich auf. "Es geht um Leben und Tod. Wir haben vielleicht einen Eisberg voraus und in ein paar Minuten kann es schon zu spät sein. Es ist beinahe zwanzig vor Mitternacht. Ich muss unbedingt zu Captain Smith und ihn warnen..."

Das Zimmer des Psychiaters hatte sich unterdessen in eine Funkstation verwandelt. Ein Mann saß an einem Tisch und gab mit der Morsetaste eine Meldung durch. Der Sender machte einen Heidenlärm.

"Halt rief ich", und stieß den Funker vom Stuhl. Dann griff ich zur Morsetaste. "Wir müssen die Californian erreichen, bevor wir mit dem Eisberg zusammengestoßen, sie ist in der Nähe."

Der andere Funker riss mir die Taste wieder aus der Hand und sagte:
"Lass meinen Rezeptblock in Ruhe. Du kannst dir nicht selbst Rezepte ausstellen." Es war mein Psychiater. Der Raum wurde wieder zu seinem Konsultations-Zimmer und die Funkstation verschwand.

"Wusstest du, dass die Titanic nicht SOS sendete, wie heute oft gesagt wird, sondern CQD, was soviel heisst wie..."

"...das interessiert mich jetzt nicht. Mit dir stimmt tatsächlich was nicht. Entweder bist du ein schlechter Schauspieler oder wir müssen tatsächlich über einen Aufenthalt in der Anstalt nachdenken."

"Das sage ich doch die ganze Zeit. Ich muss in die Anstalt zu Armin: nur dort können meine Träume kuriert werden."









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