Mittwoch, 10. Oktober 2018

Sämu der Trucker



Sämu kenne ich schon lange. Er geht jeden Tag mit seinem Hund spazieren und manchmal treffen wir uns oben auf der Bank am Waldrand. Oft meide ich ein Zusammentreffen, denn Sämu erzählt immer die gleichen Geschichten. Inzwischen kenne ich sie alle auswendig. Und das will was heißen, denn im Auswendiglernen war ich besonders schwach. Mein Hirn hat nämlich einen speziellen Defekt: Ich vergesse innert kürzester Zeit alles, was mich nicht interessiert.

Doch gestern wollte ich unbedingt mit Sämu ins Gespräch kommen. Ich habe eine ganze geschlagene Stunde auf der Bank gewartet, bis er endlich angeschnauft kam.

"Sämu, du warst doch in einem früheren Leben Trucker. Da hattest du in deinem Laster sicher auch ein CB-Radio, nicht wahr?"

Sämu schaute mich verblüfft an und als ich daran zu zweifeln begann, ob er mir jemals antworten würde, begannen seine Augen plötzlich zu leuchten wie zwei alte Sparlampen.

"Ja, das hatte ich. Aber es ist schon lange her. In meinem vorvorletzten Leben war ich tatsächlich Brummifahrer. Und ich hatte sogar zwei Antennen, eine links und eine rechts."

"Zwei Antennen. Das ist sicher besser als eine einzige. Welche Bruchteile hatten die denn? Waren das ein, zwei oder drei Achtel? Oder gar andere Brüche?"

"Das weiss ich nicht mehr. Aber zwei Antennen waren definitiv besser als eine einzige. Zumal die Antennen ziemlich kurz waren. So ein LKW hat ja schon eine beachtliche Höhe und da darf die Antenne nicht weit über das Dach hinausragen, sonst sind sie bei der nächsten Brücke oder spätestens bei der nächsten Polizeikontrolle weg."

"Logisch. Auf meinen alten Opel würden aber grössere passen, der ist nicht so hoch. Da könnte ich sogar vier davon montieren, das wäre sicher noch besser. Vierfache Antenne, vierfache Reichweite."

"Ob das so funktioniert, weiss ich nicht. Auf jeden Fall würdest du den Cops auffallen. Heute hat ja kaum noch jemand CB-Funk im Auto. Auch die Trucker kaum mehr. Diese Zeiten sind vorbei."

"Gut, vier Antennen sind natürlich übertrieben, aber zwei, eine links und eine rechts auf dem Kofferraumdeckel, würden schon geil aussehen."

"Affengeil", grinst Sämu. "Und wenn du das richtige Kabel dazu hast, um die beiden zu verbinden, wärst du echt im Vorteil."

"Wieso denn das?"

"Dann hättest du Richtwirkung, wie wir sie in den Trucks hatten. Dein Signal würde in Fahrtrichtung weiter reichen als mit einer einzigen Antenne."

"Du meinst, ich könnte vorausfahrende Fahrzeuge erreichen, die ich mit einer einzigen Antenne nicht könnte."

"So etwa, zumindest in der Theorie. Auch rückwärts würde dein Signal weiterreichen. Dafür hättest du Einbußen quer zur Straße. Aber wer will schon quer funken. Was dich auf der Straße interessiert ist doch, was vor und hinter dir liegt."

"Fast wie im Leben. Was hinter dir liegt, hat dich zu dem gemacht, was du bist, und was vor dir liegt, ist das Ziel, das du erreichen möchtest."

"So ist es. Und mein Ziel ist es jetzt, die Hühner zu füttern, damit die ihr Tagesziel erreichen und ihre Eier legen."

Als Sämu gegangen war, blieb ich sitzen und schaute ihm nach, bis er verschwunden war. Was war eigentlich mein Ziel?



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