Sonntag, 7. Oktober 2018

Jedermann funkt



Gestern habe ich meinen Freund Armin besucht. Der arme Kerl sitzt schon seit Jahren in der Anstalt. Allerdings scheint er sich dort wohl zu fühlen. Und wenn sich Armin dort wohl fühlt, würde ich es sicher auch einige Zeit dort aushalten, um von meinen Träumen befreit zu werden.

Wir sind zusammen zur Schule gegangen, zumindest eine Zeit lang. Aber er hat wesentlich mehr Schuljahre auf dem Buckel als ich. Denn die Lehrer mochten mich nicht und ich mochte sie nicht. Ein Zustand der bis heute andauert.

Doch zurück zu Armin. Nachdem die Schule sich von mir getrennt hatte, haben wir uns aus den Augen verloren. Er ist seinen Weg gegangen und ich habe meinen genommen. Später sind wir uns dann auf einer Abkürzung wieder begegnet. Ein seltener Zufall, denn im Leben gibt es mehr Umwege als Abkürzungen, und die meisten davon führen ins Nichts.

Armin hat immer schon gerne experimentiert, und so hat er in der Anstalt eine Antenne gebaut wie Guglielmo Marconi in meinem Traumleben.

"Ist das dein Funkgerät? Du machst Jedermannfunk?" Ich deutete auf ein glänzendes Kästchen in seinem Büchergestell. Es sah aus wie aus einem alten Film.

"Natürlich, heute funkt ja jedermann. Die meisten wissen es nur nicht. Sogar die Alte von nebenan funkt. Allerdings nicht auf der gleichen Wellenlänge. Doch dafür kann sie nichts."

"Dann hat sie wohl ein Handy". Ich fühlte mich besonders schlau.

"Unter anderem. Auf jeden Fall rauscht sie wie verrückt. Apropos verrückt: es ist erstaunlich wie viele Spinner man auf dem Jedermannfunk trifft. Und weisst du, was das Oberverrückteste daran ist?"

"Keine Ahnung. Wie du weisst, verstehe ich nicht viel vom Funk. Leider."

"Mit einer einzigen Ausnahme wohnen die Funker, mit denen ich Kontakt habe, nicht in der Anstalt."

"Wo hast du denn deine Antenne installiert? Du brauchst doch eine Antenne, nicht wahr?"

"Ich habe einfach einen feinen Draht von meinem Fenster zum Birnbaum neben dem Ententeich gespannt. Er ist so dünn, dass man ihn nur aus der Nähe sehen kann."

"Und das funktioniert?"

"Natürlich. Allerdings gings nicht auf Anhieb. Ich musste ziemlich viel Draht abschnippeln und dann wieder ansetzen, bis ich die richtige Länge hatte."

"Aha, wegen der Wellenlänge", bemerkte ich und kam mir wieder besonders schlau vor. Ich mag es, wenn ich eine gescheite Antwort weiss; in der Schule kam das nur äußerst selten vor.

"Möchtest du auch ein CB-Gerät? Ich könnte dir eins ausleihen. Dann könnten wir jeden Abend zusammen schwatzen, ohne dass du zu mir in die Anstalt fahren musst. Ich hätte noch ein altes President Jackson im Schrank."

"Na ja, wir könnten aber auch mehr miteinander telefonieren. Aber interessant wäre es schon. Ich war ja mal Assistent von Guglielmo Marconi...in einem früheren Leben. Und ich hänge in meinen Träumen so viele Antennen auf, da kommt es auf einen Draht im realen Leben nicht drauf an."




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